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„Ein x-beiniges üppiges Fräulein wird als Schönheit entdeckt“

Marcks’ Thüringer Venus – (k)eine Dienstmädchengeschichte 

Gerhard Marcks, Thüringer Venus, 1930

„Ein x-beiniges üppiges Fräulein wird als Schönheit entdeckt.“ 1 Das schreibt Waldemar Grzimek über Marcks’ lebensgroße Bronzeplastik Thüringer Venus. Sie gilt als ein Haupt- und Schlüsselwerk des Bildhauers. Nach der spätexpressionistischen Phase seiner Bauhaus-Zeit und unter dem Eindruck der ersten Griechenlandreise zeichnen sich die in Halle entstehenden Bildwerke durch tektonische Strenge, Blockhaftigkeit und größere Wirklichkeitsnähe aus. Diese künstlerischen Positionen wird Marcks Zeit seines Lebens nicht mehr aufgeben. In der Thüringer Venus verbindet er das Vorbild Antike mit einem Motiv christlicher Mythologie: Eva mit dem Apfel als Inkarnation von Weiblichkeit. 

Marcks’ Modelle sind Familienangehörige, Kollegen, Freunde und Schüler. Für die Venus, das lebensbejahende und sinnliche Bild einer schönen jungen Frau, steht ihm Frieda Kramberg Modell. Sie ist das Dienstmädchen der Familie Marcks. In Begleitung seiner Frau besucht er die Eltern des Mädchens, „um sie davon zu überzeugen, daß es beim Modellstehen im Atelier mit rechten Dingen zuginge“. 2

Keine andere Plastik von Marcks hat vergleichbare Debatten über Schönheitsvorstellungen und -ideale ausgelöst. Es sei „dem Lächeln der bronzenen ‚Thüringer Venus‘ die verschämte Verlegenheit abzulesen, daß gerade ihr als auserwählte Schöne der goldene Apfel durch die hohe Kunst zuerkannt worden sei“, so Martina Rudolff: „Vermutlich hätte sie sich selbst, die viele Stunden im Hallenser Atelier im klassischen Kontrapost ausgeharrt hatte, gern schlanker und straffer geformt gesehen, die Brüste weniger hängend und ohne Falten um die Taille. Auch wird sie sich gewundert haben, daß der Bildhauer, dem es auf derartige Genauigkeiten ankam, ihr Konterfei nicht direkt in Ton abbildete, sondern zuvor von allen Seiten auf viele Blätter Papier bannte. Die stellte er dann neben den Modellierblock auf ein Regal und nahm sie beim Formen in Ton immer wieder prüfend in die Hand.“ 3 

Der Buchbinder und erste Chronist der Burggeschichte, Wilhelm Nauhaus, mit dem Gerhard Marcks eine späte Freundschaft verbindet, nennt die mythologisch überhöhte und doch so lebensnah wirkende Figur „ein völlig gelöstes Menschenbild, eine ergreifende Feier des vergänglichen Lebensaugenblicks“. 4

1) Zit. nach Hoffmann 1992, Tafel 6, o. S..  2) Rudloff 1989 a, S. 151 (Hier finden sich eingehende Betrachtungen zu dieser in der Literatur oft beschriebenen Plastik.).  3) Rudloff 1993, S. 101.  4) Nauhaus 1981, S. 60.

 

Renate Luckner-Bien, Text aus:

»Wir machen nach Halle. Marguerite Friedlaender und Gerhard Marcks«
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Talstrasse, Halle (Saale)