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Gabriele Münter

* 19. Februar 1877 in Berlin
† 19. Mai 1962 in Murnau

Text aus dem Katalog zur Ausstellung »Die schaffende Galatea. Frauen sehen Frauen«

„Bildnismalen ist die kühnste und schwerste, die geistigste, die äußerste Aufgabe für den Künstler“, schreibt Gabriele Münter 1952 zurückschauend auf ihr in mehr als fünf Jahrzehnten gewachsenes Lebenswerk. In der Tat bilden Menschendarstellungen – ob in Form von Porträts oder in größerer Kompositionen, gemalt oder gezeichnet – einen bedeutenden Teil ihres Œuvres. Fast 250 Porträts schafft sie in ihrem Leben, vier Fünftel davon stellen Frauen dar. Dabei meint sie bescheiden, ihr fiele das Porträtmalen nicht leicht, nicht viele Bildnisse seien ihr wirklich gelungen. Ihr ist nicht daran gelegen, ihr Ego wirkungs- und marktgerecht zur Geltung zu bringen. Vielleicht auch aufgrund dieser für sie typischen Bescheidenheit hat sie den Ruf, eine unreflektierte und gleichsam naive Künstlerin zu sein – zu Unrecht, wie anhand ihrer durchdachten Arbeitsweise zu belegen ist.

Das gezeigte Porträt Olga von Hartmanns gehört auf alle Fälle zu den geglückten. Es entsteht um 1910, etwa ein Jahr, bevor der Blaue Reiter, mit dem auch Gabriele Münters Ruhm in erster Linie verbunden ist, sich von der Neuen Künstlervereinigung München abspaltet, deren Gründung Marianne von Werefkin und Alexej von Jawlensky 1908 initiiert haben und der u.a. auch Münter und ihr Lebensgefährte Wassily Kandinsky angehören. Die Künstlerin zeigt sich hier im Vollbesitz ihrer malerischen Mittel, die sie in Murnau beim intensiven gemeinsamen Arbeiten mit Kandinsky, Werefkin und Jawlensky errungen hat. Sie malt nicht ab, was sie vor sich sieht, sondern sie gibt einen Extrakt, um es mit ihren Worten zu sagen ‒ schnörkellos und unprätentiös, ohne demonstratives Pathos. Keine überflüssigen Details, sondern Komprimierung in von Umrisslinien eingefassten Farbflächen, klare Strukturierung und „Fühlen des Inhalts“, d. h. Sichtbarmachung des Wesens mit wenigen, geradezu grafisch wirkenden Pinselstrichen. Diese im Dreiviertelprofil dargestellte junge Frau, die ihren linken Arm auf eine Lehne stützt und den Betrachter reserviert und zugleich forschend anblickt, strahlt bei aller Zartheit gesammelte Energie und vornehmes Selbstbewusstsein aus. Sie und ihr Mann, der russische Komponist Thomas von Hartmann, gehören beide zum Kreis um Werefkin und Jawlensky und sind besonders mit Kandinsky befreundet. Hartmann arbeitet später am Almanach „Der Blaue Reiter“ mit, schreibt die Musik zu Kandinskys Bühnenwerk „Der gelbe Klang“ und komponiert für den Tänzer Alexander Sacharoff. Es sind dies die für Gabriele Münter wohl produktivsten Jahre.

Zwischen dem Porträt Olga von Hartmanns und der Mutter mit schlafendem Kind liegen etwa zweieinhalb schwierige Jahrzehnte für Gabriele Münter. Kandinsky verlässt sie 1916, als beide in Skandinavien sind. Sie bleibt und arbeitet in Schweden und Dänemark bis 1920, erlebt dort, wie auch später wieder in Deutschland, künstlerische Erfolge, aber auch Isolation und Niedergeschlagenheit, Perioden der stockenden Produktivität und Geldsorgen. Die Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkrieges übersteht sie in zu­nehmender Zurückgezogenheit mit ihrem neuen Gefährten Johannes Eichner in Murnau. Es ist vielleicht nicht falsch, das 1934 entstehende Bild Mutter mit schlafendem Kind vor dem Hintergrund heraufziehender Bedrückung zu sehen. Kummer scheint im Blick der Mutter zu liegen, die sich wie auf einer byzantinischen oder russischen Marienikone liebe- und sorgenvoll über das Kind in ihren Armen neigt und deren Kopf, Arm und Oberkörper ein bergendes Rund bilden – wie auf Ikonen vom Typ der Eleousa (griech., „die sich Erbarmende“) bzw. Glykophilousa (griech., „die süß Küssende“) oder Umilenie (russ., „Milde, Zärtlichkeit, Mitleid, Rührung, Anmut“). Die Gottesmutter weiß um das Schicksal ihres Kindes, und die Mutter auf Gabriele Münters Bild könnte ähnliche Vorahnungen hegen. Eine weltliche Darstellung, gewiss. Die Komposition jedoch verleiht ihr einen ikonenhaften Charakter, und ihre Strenge, die gedämpfte Farbgebung und die groß zusammengefassten Formen verhindern, dass ihre Innigkeit ins Sentimentale abgleitet.

Christoph Sorger