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Gertraud Möhwald

* 15. Juni 1929 in Dresden
† 20. Dezember 2002 in Halle (Saale)

Text aus dem Katalog zur Ausstellung »Die schaffende Galatea. Frauen sehen Frauen«

Gertraud Möhwald ist sich schon als Schülerin sicher: Sie will Bildhauerin werden. Das Handwerk der Steinbildhauerei erlernt sie in ihrer Geburtsstadt Dresden. Von 1948 bis 1950 arbeitet sie mit an der Rekonstruktion des im Krieg schwer beschädigten Dresdner Zwingers. Das Erleben von Zerstörung und Wiederaufbau verbindet sie Jahre später mit einer tief empfundenen Bewunderung für antike Ruinen. Beides spiegelt sich in ihrem plastischen Werk. Ihre Skulpturen sind in der Regel torso­ähnlich konzipiert. Dieses Vorgehen ist nicht allein das bewährte Mittel zur Modellierung in sich geschlossener Formen. Bei ihr ist das Fragmentarische zuvorderst Sinnbild der Vergänglichkeit. 

Sie folgt dem Rat ihres ersten Lehrers, des Künstlerischen Leiters der Bildhauerwerkstatt für den Zwinger und die Hofkirche Albert H. Braun, und geht 1950 nach Halle. An der Burg Giebichenstein studiert sie Bildhauerei in der Klasse von Gustav Weidanz. Nach der Geburt von drei ihrer vier Kinder beginnt sie 1959 ein zweites Studium, jetzt in der Keramik. Wieder erlernt sie das Handwerk von Grund auf. Der Bildhauerin geht es auch bei ihren keramischen Gefäßen in erster Linie um Proportionen, Volumen und Spannung und die Beziehung der Form zum Raum. Das vermittelt sie zwischen 1964 und 1989 als Lehrende an der halleschen Kunsthochschule ihren Studenten, die sie zu disziplinierter und selbstständiger Arbeit ermutigt.

Ab Mitte der 1960er Jahre gilt Gertraud Möhwalds wachsendes Interesse erneut der menschlichen Figur. In den letzten zwanzig Jahren ihres Lebens entstehen ausschließlich figürliche Plastiken. Für Gertraud Möhwald ist der Ton nicht einfach Modelliermasse für spätere Abformungen, sondern ein Material mit eigenständigem Charakter. Für ihre ausdrucksstarken Skulpturen nutzt sie die schon bei den Gefäßen erprobten Techniken von Collage und Assemblage sowie die Möglichkeiten farbiger Tone und Glasuren. Und sie erweitert diese Palette durch die Verwendung von keramischen Scherben und anderen Bruchstücken. Daraus entwickelt sich ihre ganz eigene und unverwechselbare Art sich auszudrücken. 

In der Nationalgalerie Berlin (West) sieht Gertraud Möhwald 1987 die große Ausstellung von Alberto Giacometti. Von dessen Werk, besonders von den Porträts Annette Giacomettis, ist sie tief beeindruckt. Auch Möhwald ringt voller Selbstzweifel um das gültige Abbild des isoliert Einzelnen. Wie Giacometti bezeugt sie mit ihrer Kunst die aus Selbstbesinnung wachsende Kraft und Integrität des Menschen.

Gertraud Möhwalds künstlerisches Interesse an der menschlichen Figur korrespondiert mit ihrer von Empathie geprägten Aufmerksamkeit gegenüber ihren Mitmenschen. Auf besondere Weise zeigt sich das in den zahlreichen Büsten und Köpfen, Ganz- und Halbfiguren. Sie tragen porträtähnliche Züge von Freunden und Künstlerkollegen, häu­fig ihrer Kinder und Enkel. Nicht zufällig sind die meisten ihrer Modelle weiblich. Gertraud Möhwald hat nie ein Selbstporträt modelliert. Doch scheinen die ihrer Skulpturen, unabhängig vom Geschlecht des Porträtierten, oft wie Selbstbildnisse. Den Blick abgewendet vom Lärm der Welt tragen sie die Spuren gelebten Lebens voller Würde und Schönheit. Jean Genet spricht, bezogen auf die Kunst Giacomettis, von einer Schönheit, an der nur die Wunde ursprünglich ist, „die jeder Mensch in sich hütet, einzigartig, für jeden verschieden, sichtbar oder versteckt – die er wahrt und zu der er sich zurückzieht, wenn er die Welt für eine vorübergehende, aber tiefe Einsamkeit verlassen will“.1 Nicht zuletzt in diesem Sinne sind Möhwalds Figuren Unberührbare. Sie erschrecken uns – und zugleich ziehen sie uns magisch an. Wir sind es, die Fragen haben. Sie wissen lang schon Bescheid.

Dr. Renate Luckner-Bien

  • 1) Jean Genet: Alberto Giacomettis Atelier, in: Alberto Giacometti. Ausstellungskatalog Nationalgalerie Berlin, Staatgalerie Stuttgart, München 1988, S. 361