23. Oktober 2019
Mädchen
Jeanne Mammen
1924/1933
Eigenartig sieht es aus, das „Mädchen“. Sein im Verhältnis zum schmalen, schräg verdrehten Oberkörper übergroßer Kopf scheint sich kaum auf dem Hals zu halten. Die kurzen modischen Haare fallen in Strähnen nach vorn und unterstreichen die Haltung des leicht vorgestreckten Kinns. Die Augen, mit deutlichen Tränensäcken unterlegt, sind etwas zusammengekniffen, ein „Dackelblick“, der kaum etwas fokussiert, vielmehr ins Leere gerichtet ist. Der Mund leicht geschürzt und die Wangen prall – ein weiterer Gegensatz zur schmalen Statur der jungen Frau.
Eine eigenartige Ambivalenz ist spürbar: Einerseits evoziert der merkwürdig leere, gar einfältige Ausdruck der jungen Frau eine Distanz, andererseits suggeriert ihr leicht verschmitztes, dennoch zurückhaltendes Lächeln, das durch die Züge der Mundwinkel sowie durch die Augenpartie angedeutet wird, Sympathie, fast eine Vertrautheit. Trotz der satirischen Überzeichnung der Figur fühlt man sich ihr auf rätselhafte Weise verbunden.
Dieses Merkmal ist sicherlich eines der wichtigsten des künstlerischen Schaffens Jeanne Mammens, das Mitte der 1920er Jahre einen Höhepunkt erreicht. Ihre Motive schöpft sie aus dem mondänen Leben des Berlins der „Goldenen Zwanziger“. Die ganze Stadt ist ein wildes Tanzfest, die Tanzcafés, Varietés und Bars locken Menschen unterschiedlichster Couleur in großen Scharen. Jeanne Mammen ist mittendrin und taucht ein in das aufregende Leben der Demimonde und Subkultur.
Die veristische Verhäßlichung, das unbarmherzig Entfremdete der Gestalten eines Otto Dix oder George Grosz ist Mammens Sache nicht, bei ihr schwingt immer etwas Verständnisvolles, nicht selten geradezu Solidarität mit. Auf eine moralische Bewertung verzichtet sie. Vor diesem Hintergrund scheint es nahvollziehbar, dass es vornehmlich Frauen sind, mit denen sich die Künstlerin beschäftigt, sie stehen ihr am nächsten. Ihre Protagonistinnen sind Prostituierte, Serviererinnen, Lesben, biedere Ehefrauen, und Revuegirls; alle charakteristische Stellvertreterinnen für das Gesellschaftsbild dieser Zeit. So auch unser „Mädchen“, das dem zeitgenössischen Typus der „Neuen Frau“ entspricht: schlank, sportlich, sachlich, modern – anmutig und herb zugleich.
Thole Rotermund
In: Bizarre Begegnung. Bilder schauen dich an. Porträts aus der Sammlung Brabant. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 11. Juli – 8. November 2009 im Stadtmuseum Penzberg