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„‚Mythos Mädchenheit‘ oder wie man das nennen könnte“

Jungfrau Brigitte

Gerhard Marcks, Die Jungfrau, 1932

Nach Zeichnungen, die Gerhard Marcks von seiner 16-jährigen Tochter Brigitte gemacht hatte, modelliert er 1932 eine kleine weibliche Figur im klassischen Kontrapost. Aufrecht stehend, den angewinkelten rechten Arm leicht unterhalb der Brust abgelegt, blickt sie mit leisem Lächeln verträumt ins Nirgendwo ihres schönen Tagtraums. Mit ­Genehmigung des Künstlers wird diese Plastik in der Gießerei der Burg nach 1945 ein zweites Mal gegossen. So steht es im Werkverzeichnis. 1 Das sind die wenigen gesicherten Informationen, aus denen sich viele Fragen ergeben: Wann, wem und in welcher Form hat Marcks diese Erlaubnis erteilt? War es sein Dank an die Burg für die Restitution seiner Arbeiten im Sommer 1953? Befand sich das Gipsmodell unter den geretteten Arbeiten aus jenen siebzehn Kisten, die Marcks’ Freund Felix Weise in seiner Fabrik untergestellt hatte und die Ende 1949 in die Burg gebracht worden waren? Oder hatte der Gips in der Burg-Gießerei, in der 1932 schon der erste Guss entstand, die Nazizeit überdauert? Auf einem Foto aus den 1950er-Jahren sieht man die Plastik auf einer Werkbank im Arbeitsraum der Metallklasse von Karl Müller im Südflügel der Burg stehen. Es ist anzunehmen, dass sie dort nach dem Guss verputzt wurde. 

Die kleine Figur gehört seit den 1950er-Jahren zum festen Inventar des Direktor-Zimmers, das ab 1958 ein Rektor-Zimmer ist. An der Burg ist man stolz auf dieses Erbe. Immer dann, wenn Rektor und Rektorat in neue Räume umziehen, wechselt wohl deren Einrichtung – doch die Marcks’sche Plastik ist immer dabei. Das geht so bis etwa 1998, als der amtierende Rektor befindet, es sei nun genug mit der Ahnenverehrung und sie im Depot verschwinden lässt. 

Die Kunsthalle Rostock zeigt 1974 aus Anlass des 85. Geburtstags des Künstlers eine Ausstellung, die auf ihrer zweiten Station in Halle um dreizehn Arbeiten erweitert wird. Darunter ist auch die kleine Stehende, im Verzeichnis ausgewiesen als Leihgabe der Hochschule für Industrielle Formgestaltung, Burg Giebichenstein, Halle. Unter der Katalognummer E 3 wird sie als Brigitte aufgeführt. Laut Werkverzeichnis heißt sie Die Jungfrau. In Halle aber wird sie noch heute bei ihrem richtigen Namen genannt: Brigitte. 

Im Sommer des Jahres, da Marcks dieses schöne Mädchen modelliert, schreibt er an seine Frau: „Ich sah sie [Brigitte] mit ihren Freundinnen durchs Gartentürchen gehen, dann sah ich mir ein altgriechisches Relief an; und währenddessen stieg ein zarter Gesang aus der Bodenstube oder dem Landeplatz: mit einemmale überkam mich ‚Mythos Mädchenheit‘ oder wie man das nennen könnte, eine ‚Idee‘; ich denke etwas, wie eine fruchtbare Erleuchtung.“ 2

1) Rudloff 1977, WV 247, S. 182.   2) Marcks an Maria Marcks, Halle, 6.6.1931, zit. nach Frenzel 1988, S. 65.

Renate Luckner-Bien, Text aus:

»Wir machen nach Halle. Marguerite Friedlaender und Gerhard Marcks«
Katalog zur gleichnamigen Ausstellung in der Kunsthalle Talstrasse, Halle (Saale)