24. Oktober 2019
Mädchenkopf
Emil Nolde
1925
Meditation
Manchmal schien es ihm, so dachte er, während sie im Abendlicht am Fenster stand, als würde ihr Wesen sich in ihrem Gesicht spiegeln. Verträumt und abwesend wirkte sie in diesem Augenblick, etwas zerstreut, in ihren Gedanken gefangen. Sie blickte weniger hinaus als in sich hinein, und er konnte nur vermuten, so musste er sich bedauernd eingestehen, was sie dachte. Ein warmes sanftes Licht fiel durch das Fenster und färbte die Zimmerwand goldgelb. Eine blaue Farbwolke umhüllte ihren Kopf und beschattete die Augenpartie, während er ihren Mund und ihre Wangen in warmen Farben sah – in wechselnden Rottönen-eine Art sinnlicher Verbindung zur Welt, so schien es ihm. Auch ohne ein Wort oder einen Blick mit ihr zu wechseln, stellte er mit Hilfe dieser Farbanalyse fest, in welcher Stimmung sie war. Er kannte diese blaue Stunde, diese geheimnisvolle, mysteriöse Atmosphäre, die oft jedoch nur Sekunden dauerte und durch das geringste Geräusch, die kleinste Geste gestört wurde.
Oft fragte er sich, wie dieses farbige Bild von ihr, das natürlich nur er sah, zustande kam. Er grübelte darüber nach, warum er in Farben dachte und empfand und was diese Töne bedeuten könnten. Warum nahm er sie in diesem Augenblick in dem Dreiklang Blau-Rot-Gelb war? Immer schon war es so gewesen, so erinnerte er sich in diesem Augenblick, dass er Formulierungen in Rot sehen konnte oder genau verstand, was es bedeutete grün vor Neid zu werden. So empfand er auch ihre blaue Stunde als ein Seherlebnis und konnte die spezifische Atmosphäre dieses Augenblicks nur in Farben ausdrücken. Und ebenso, wie er fremde Gefühlswelten in Farbtöne umsetzte, so nahmen auch seine eigene Empfindungen Farbe an.
Cathrin Klingsöhr-Leroy
In: Bizarre Begegnung. Bilder schauen dich an. Porträts aus der Sammlung Brabant. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung vom 11. Juli – 8. November 2009 im Stadtmuseum Penzberg